Ein Fitnessstudio für unseren Imaginationsmuskel

An abstract visual consisting of blob-like blue shapes and collage cutouts of flowers and eyes

+++ English version below +++

Ein Fitnessstudio für unseren Imaginationsmuskel

Trainier mit SUPERRR das Entwerfen alternativer Erzählungen und Zukünfte.

Wann hast du dir das letzte Mal die Zukunft ausgemalt? Keine strategische „Wo sehe ich mich in fünf Jahren“ oder „Was muss ich für die nächste Woche einkaufen” Zukunft? Sondern eine Vision der Zukunft für dich, für uns als Gesellschaft in 20, 30, 100 Jahren? Welche Hoffnungen hast du für sie? Wie hat es sich angefühlt?

Ich stelle mir diese Frage in letzter Zeit häufiger. Und spüre dann einen Knoten irgendwo zwischen Brust und oberem Magen. Ich bin eigentlich ausgebildete Komparatistin. Den Großteil meines Erwachsenenlebens habe ich damit verbracht, Schnittstellenthemen zu analysieren und in der Vergangenheit zu wühlen. Die Frage, wie wir über das schreiben, sprechen und erinnern können, was war, beschäftigt mich, so lange ich denken kann. „Was war” ist dabei ein Euphemismus. Denn fast immer ging es dabei um individuelle Biographien und kollektive Geschichten im Kontext von Krieg, Vertreibung und Tod. Was ich nie gelernt habe, ist darüber zu schreiben (zu denken?), was sein könnte. Und noch viel weniger: darüber, was sein sollte.

Ich mache Zukünftearbeit in einer feministischen Organisation. Bereits die Bezeichnung ‚feministisch‘ erzeugt Reibungen, im besten Fall Fragen, die einen Austausch ermöglichen. Wenn ich von meiner Arbeit erzähle, ernte ich meistens fragende oder neugierige, manchmal auch irritierte Blicke. Ich kann es ihnen nicht verübeln, denn ich übe selber noch jeden Tag, wie das geht mit dem Zukünfte visionieren. Es hört sich erst mal abstrakt an. Oft ist es auch schwer. Für mich als Individuum, weil ich meine Wirksamkeit und Sicherheit in dieser Welt oft nicht spüre. Und für uns als Gesellschaft, weil wir umgeben sind von alten und neuen Krisen – Katastrophen, die es schwer machen nicht zu verzweifeln. Als Zivilgesellschaft haben wir alle Hände voll damit zu tun, den dringenden Themen im Hier uns Jetzt etwas entgegenzusetzen, Schaden zu begrenzen, zu schützen. Eine Zukunft voller Freude, Solidarität, Gerechtigkeit – ja Hoffnung – zu visionieren fühlt sich dabei manchmal fast anmaßend an. Was passiert, wenn wir es trotzdem tun? Wenn wir uns trauen, diese Zukünfte zu imaginieren und zu entwerfen – nicht als unerreichbare Utopien, sondern als wünschenswertes Ziel, auf das wir hinarbeiten können – und zwar jetzt?

Ich muss an meinen ersten Futuring-Workshop denken, den ich begleitet habe. Wir waren in einer Kleingruppe und die Teilnehmer*innen steckten fest. Sie wussten partout nicht, welche Maßnahmen sie in Richtung ihrer Zukunftsvision – selbstorganisierte soziale Netzwerke – bringen sollten. Ihr Denken kreiste um technische Lösungen, die kurzfristig Linderung versprachen, aber langfristig nicht zum gewünschten Ziel führten. Bis eine Person aus der Gruppe kühn genug war, an den Grundvoraussetzungen zu drehen: ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle. Eine Stellschraube, die auf den ersten Blick wenig mit sozialen Netzwerken zu tun, aber das Potenzial hat, das System, in dem wir leben, von Grund auf zu verändern. Was dann in der Gruppe geschah, war ein bisschen wie Magie – plötzlich war der Mut und das Selbstverständnis da, positive Szenarien zu erkunden. Und Ideen, wie sie Wirklichkeit werden könnten.

Die Barrieren in unseren Köpfen sind groß, weil die Erzählungen, die wir über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennen, Werte wie Solidarität, Gerechtigkeit und füreinander da sein als unerreichbare Utopie abtun. Das beeinflusst zwangsläufig unser Denken und Handeln. Und erschafft damit auch die Realitäten, in denen wir leben. Die Katastrophen unserer Zeit sind ein klares Warnsignal: So geht es nicht weiter! Wenn wir auf einen positiven Wandel und neue Realitäten hinarbeiten wollen, wird es dringend Zeit für alternative Erzählungen. Dafür brauchen wir Räume, zeitliche Ressourcen und vor allem Übung. Die Fähigkeit, neue Erzählungen, Visionen und Zukünfte zu erträumen und zu planen, müssen viele von uns noch lernen – sie ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss.

Für uns als Organisation ist er vielleicht sogar der wichtigste Muskel – für die Arbeit an unseren Themen und in der Kollaboration mit anderen. Je mehr Menschen und Organisationen diesen Muskel trainieren, desto leichter können wir gemeinsam auf die Zukünfte hinarbeiten, die wir uns wünschen. Damit das möglich wird, starten wir zusammen mit Futures Probes im Juni 2024 unser Pilotprogramm ‚Futures Literacy for Civil Society‘. Dafür bringen wir Menschen aus der Zivilgesellschaft zusammen, um gemeinsam Zukunftskompetenz aufzubauen und neue, positive Erzählungen – und damit auch Realitäten zu (er)schaffen. Das gibt mir Hoffnung. Denn ich weiß, dass es im besten Fall nicht bei bloßen Erzählungen bleiben wird. Sondern diese Erzählungen in konkrete Maßnahmen und Handlungen übersetzbar sind. Was kann kraftvoller sein für positive Veränderungen als das Gefühl der Wirksamkeit in der Welt? Wieder spüre ich das kribbeln von Magie.

Der Knoten in meiner Brust ist übrigens noch da. Aber er wird kleiner – Tag für Tag. Ich übe.


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A gym for our imagination muscle

Train to create alternative futures and narratives with SUPERRR.

When was the last time you imagined the future? Not a strategic "Where do I see myself in five years" or "Which groceries do I need to buy for next week" future? But rather a vision of the future for yourself and for us as a society in 20, 30, 100 years. What hopes do you have for it? How did it feel?

I've been asking myself this question quite often lately. Followed by a knot tightening somewhere between my chest and upper stomach. I'm actually trained in comparative arts. I've spent most of my adult life analyzing interface issues and delving into the past. The question of how we can write, speak, and remember what was has occupied me for as long as I can remember. "What was" is a euphemism here. Because almost always, it was about individual biographies and collective stories in the context of war, displacement, and death. What I've never learned is how to write (or think?) about what could be. And even less: about what should be.

I do futures work in a feminist organization. The term 'feminist' already creates friction, at best, questions that enable an exchange. When I talk about my work, I usually receive curious, sometimes even puzzled looks. I can't blame them because I'm still training every day on how to do this futures work. It sounds rather abstract at first. Often, it's also quite tricky. For me as an individual, because I often don't feel my impact and safety in this world. And for us as a society, because we are surrounded by old and new crises – catastrophes that make it hard not to despair. As civil society, we are all busy addressing urgent issues in the here and now, limiting damage and protecting from harm. In this context, envisioning a future full of joy, solidarity, justice and, yes, hope sometimes feels almost presumptuous. What happens if we do it anyway? If we dare to imagine and design these futures – not as unattainable utopias, but as a desirable vision and goal we can work towards – right now?

I can't help thinking about the first futuring workshop I facilitated. We were in a small group, and the participants were stuck. They had no idea what measures they should take to achieve their vision of the future – self-organized, secure social networks. Their thinking revolved around technical solutions that promised short-term relief but did not lead to the desired goal in the long term. Until one person in the group was bold enough to tweak a fundamental premise: an unconditional basic income for all. An adjustment that, at first glance, has little to do with social networks but has the potential to fundamentally change the system we live in. What happened in the group afterwards was a bit like magic. Suddenly, there was the courage and confidence to explore positive scenarios. And there were ideas on how to make them a reality.

The barriers in our minds are enormous because the stories we know about the past, present, and future dismiss values such as solidarity, justice and being there for one another as unattainable utopias. This inevitably influences our thoughts and actions. And thereby manifests the realities in which we live. The disasters of our time are a clear warning signal: we can't go on like this! If we want to work towards positive change and new realities, it is high time for alternative narratives. To do this, we need space, time, resources and, above all, practice. Many of us still need to learn to dream up and plan new narratives, visions and futures – it's like a muscle that needs to be trained.

For us as an organization, it is perhaps the most critical muscle – for working on our topics and collaborating with others. The more people and organizations have this muscle, the more we can work towards the futures we aspire to. To realize this, we are launching our pilot program, ‘Futures Literacy for Civil Society’ together with Futures Probes in June 2024. We bring people from civil society together to collectively build futures competence and create new, positive narratives – and thus realities. That gives me hope. Because I know that – best case – it won't just stop with the mere narratives. But rather that they can be translated into concrete measures and actions. What could be more powerful for positive change than the feeling of impact in the world? Again, I feel the tingling of magic.

By the way, the knot in my chest is still there, but it's getting smaller day by day. After all, I'm still training.