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Das Security-Playbook

Sicherheit ist der Kampfbegriff der Stunde. Politische Programme – wie die Leitlinien von der Leyens für die Europäische Kommission 2024–2028 oder das von den Ampelparteien eingebrachte Sicherheitspaket – bemühen Rhetoriken von Schutz, Verteidigung und Abwehr. Im Wahlkampf zur vorgezogenen Bundestagswahl 2025 erwartet uns ähnliches: Vorhang auf zum Sicherheitstheater. Doch was und wer genau wird – vermeintlich – geschützt? Sicherheit wird als eine Leerstelle inszeniert, die es zu füllen gilt, als Bühne, auf der die Politik das Stück der Hard Power aufführt: „Wir werden uns alle Politikbereiche aus dem Blickwinkel der Sicherheit anschauen“, heißt es in den Leitlinien der Europäischen Kommission. Übersetzt bedeutet das: Misstrauen. Man* geht vom Schlimmsten aus: Bedrohungen werden präventiv antizipiert, sodass schnelle, „wirksame“ Antworten gefunden werden müssen. Die Bühne ist bereitet, das Szenario festgelegt. Es werden alle notwendigen Requisiten zusammengestellt, um vorbereitet zu sein. Und selbst wenn dies einen geopolitischen Alleingang erfordert, heißt die Maxime: niemals vom Skript abweichen. Textsicher kann Deutschland und Europa. Vorhang auf.

Ein Solo-Akt rigiden Sicherheitsdenkens

Dieser Alleingang zeigt ein rigides Sicherheitsdenken, das auf Kontrolle und Durchgreifen setzt. „Das Personal von Europol soll verdoppelt, das von Frontex verdreifacht werden.“ So wird der Staat militarisiert, staatliche Macht aufgerüstet, vermeintlich im Dienste des Schutzes. Doch wenn wir den Vorhang des Sicherheitstheaters lüften, zeigt sich die Brutalität dahinter: Der Ausbau von Frontex geschieht unter dem Vorwand, das Sterben im Mittelmeer verhindern zu wollen. Tatsächlich belegt er eine zunehmend militarisierte Grenzpolitik, die diejenigen abwehrt und gefährdet, die in Europa Sicherheit suchen – genau jene Sicherheit, die Europa für sich selbst beansprucht. 

Wessen Sicherheit wird also verteidigt? Es ist die Sicherheit einer angeblich homogenen europäischen Gesellschaft, die sich nach außen abschottet und nach innen kontrolliert. Das Sicherheitstheater inszeniert die „Anderen“ als Gefahr, als störendes Element, das es zu überwachen gilt. Die Logik des Stücks schafft Akzeptanz für Eingriffe, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren und die die Gesellschaft bis heute mehrheitlich zu sehen verweigert oder sogar befürwortet. Diese Entwicklung beschreibt der Begriff „Versicherheitlichung“: gesellschaftliche Probleme werden als Sicherheitsrisiken definiert, um autoritäre Maßnahmen zu rechtfertigen. Versicherheitlichung zeigt sich auch in der Netzpolitik: Überwachung im öffentlichen Raum, biometrische Datenbanken, Vorratsdatenspeicherung – all diese Maßnahmen greifen tief in unser Leben und unsere Grundrechte ein, angeblich um die Sicherheit der Allgemeinheit zu schützen. Doch was hier wirklich gespielt wird, ist ein Theaterstück über Kontrolle, nicht über Fürsorge. Und es ist ein Dauerbrenner auf den Bühnen dieser Welt.

Sicherheitslügen statt Sicherheitslücken

Hinter netzpolitischen Vorhaben, die im Kontext der Versicherheitlichung auf die politische Agenda gesetzt werden, stehen stets dieselben, teils unausgesprochenen Versprechen:

  • Sie werden (nur) eingesetzt, um „unsere“ Gesellschaft und „unseren“ Wohlstand vor „den Anderen“ zu schützen (zum Beispiel durch biometrische Kontrollen an den EU-Außengrenzen oder die Bezahlkarte für Geflüchtete). Der Versicherheitlichungsdiskurs führt in dieser Argumentation zu höherer Akzeptanz: Weitreichende Mittel erscheinen gerechtfertigt und notwendig. Diese Mittel konstruieren kontinuierlich ein Anderssein und förderen damit die Spaltung unserer Gesellschaften. Sie setzen auf Neid, Misstrauen und fördern ein Überlegenheitsgefühl: Wie sonst lässt sich erklären, dass Länder verstärkt algorithmische Analysen einsetzen, um Betrug im Sozialsystem aufzudecken (und dabei auf ganzer Linie versagen), während Steuerbetrug der Reichen, der Gesellschaften wesentlich mehr kostet, von ähnlich großflächiger, automatisierter Überwachung unbehelligt bleibt?

  • Die Einführung technischer Maßnahmen wird oft mit einem konkreten, extremen Einzelfall begründet und dann rasch auf andere Straftaten ausgeweitet: Für das Sicherheitspaket war das tödliche Attentat in Solingen der Ausgangspunkt. Tatsächlich werden diese Maßnahmen oft schnell über die Reiter der Infokalypse (Terrorismus, sexueller Missbrauch von Kindern und andere organisierte Kriminalität) ausgeweitet. Dabei zeigt sich ein ums andere Mal, dass diese Maßnahmen schlicht nicht wirksam sind und weder Verbrechen verhindern noch Betroffenen helfen. Sie sind Theater.

Die Versicherheitlichungsdebatte, in der wir uns wieder einmal befinden, schafft keine Sicherheit – schon gar nicht für alle und ohne zu zahlenden Preis. Denn neue Sicherheitsgesetze finden durchaus Anwendung, beispielsweise um zivilen Protest zu unterdrücken.

Das Sicherheitstheater ist nicht nur auf juristischer Ebene problematisch, sondern auch auf technischer. Denn technische Werkzeuge und Lösungen für Überwachung und Zensur, die in einem Land in einem bestimmten Kontext Anwendung finden, wecken Begehrlichkeiten in anderen Ländern, zu anderen Zwecken. Unternehmen wie Plattformbetreiber können kaum rechtfertigen, eine existierende technische Lösung nicht einzusetzen, sobald es die rechtlichen Vorgaben erfordern.

Wessen Sicherheit?

Wenn wir genau hinsehen, wird klar, dass dieses „Sicherheitsversprechen“ nicht allen gilt. Die Bühne, auf der Sicherheit inszeniert wird, vergibt immer Haupt- und Nebenrollen, macht Menschen zu Protagonist*innen und Antagonist*innen. Insbesondere Muslim*innen, und alle, die als solche markiert werden, stehen in diesem Theaterstück oft im Scheinwerferlicht: sie verkörpern die Konstruktion des „gefährlichen Anderen“. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist das Bild der „islamistischen Bedrohung“ zunehmend in den Fokus des Sicherheitsdiskurses gerückt. Muslimische Körper werden auf der Bühne des Sicherheitsstaats als verdächtig, auffällig und potenziell gefährlich dargestellt. Diese Inszenierung greift tief in das Leben von Muslim*innen und als solche Markierte ein – sei es durch die Überwachung von Moscheen, die Registrierung von Namen in Datenbanken oder die ständige Politisierung des Kopftuchs.

Das Sicherheitspaket zeigt, wer Protagonist*in und wer Antagonist*in ist: Die eine Hälfte des Pakets, der Gesetzentwurf zur Verbesserung der Terrorismusbekämpfung soll sich zwar gegen Islamismus und Rechtsterrorismus gleichermaßen richten. Aber dieser Handlungsstrang wird ergänzt durch einen zweiten, der die Intention ins rechte Licht setzt: Das Ende Oktober 2024 verabschiedete Gesetz sieht unter anderem vor, dass Geflüchtete ihren Schutzstatus verlieren, wenn sie in ihr Herkunftsland reisen und diese Reise „nicht sittlich zwingend“ geboten ist. Doch auch hier sind nicht alle Menschen gleich, denn: „Geflüchtete aus der Ukraine sind hiervon nicht betroffen.

Auch Bildsprache konstruiert das „gefährliche Andere“, wie in diesem Image-Film des Bundesnachrichtendienstes, der bis heute im Besucherzentrum stolz vorgeführt wird: Wessen Sicherheit, und gegenüber wem, das zeigen 15 Sekunden dieses Films nur zu deutlich. 

Diese Maßnahmen inszenieren muslimische Körper als das, was es zu kontrollieren gilt. Die Auswirkungen sind dabei nicht nur institutionell, sondern auch alltäglich spürbar: Polizeikontrollen, soziale Stigmatisierung, ständige Verdächtigungen. Muslim*innen werden zu Objekten eines Sicherheitsdiskurses, der sie kriminalisiert, während ihre eigenen Bedürfnisse nach Schutz – etwa vor rassistischer Gewalt – systematisch ignoriert und kleingeredet werden. Die Kulisse des Sicherheitstheaters verdeckt, dass hier nicht Sicherheit für alle, sondern eine Hierarchie des Verdachts geschaffen wird.

Ein alternatives Skript: Sicherheit neu denken

Doch was, wenn wir das Stück der Sicherheit von Grund auf neu inszenieren? Ein alternatives „Safety-Playbook“ würde Sicherheit nicht als eine Frage der Kontrolle begreifen, sondern als einen Prozess kollektiver Fürsorge. Feministische, antirassistische und abolitionistische Bewegungen haben längst gezeigt, dass Sicherheit jenseits von Überwachung und Regression gestaltet werden kann und muss. Diese Ansätze setzen auf Vertrauen, auf die Stärkung von Gemeinschaften und den Schutz vor den tatsächlichen Bedrohungen. Anti- und Counter-Surveillance-Strategien zielen darauf ab, die Mechanismen des Sicherheitsstaats zu durchbrechen und Freiräume zu schaffen, in denen Sicherheit durch Solidarität, Gerechtigkeit und Fürsorge entsteht. Diese Alternativen fragen nicht: Wie schützen wir uns vor den Anderen? Sie fragen: Wie können wir gemeinsam sicher sein? Wie schaffen wir Räume, in denen alle gehört werden und in denen Sicherheit kein Vorwand für Überwachung ist, sondern ein Versprechen auf Gerechtigkeit?

Das Sicherheitstheater zeigt immer wieder dieselbe Aufführung: ein Stück über Angst, Kontrolle und Ausgrenzung. Der Staat stellt Menschen als Bedrohung für staatliche Sicherheit dar und wird dabei selbst zu einer Gefahr für ein solidarisches, gesellschaftliches Miteinander. Doch wir müssen dieser Aufführung nicht (länger) zuschauen. Es ist an der Zeit, den Vorhang zu lüften, die Mechanismen dieses Stücks zu erkennen und eine neue Handlung zu schreiben. Eine Erzählung, die nicht auf Überwachung, sondern auf Fürsorge basiert.

Seid ihr bereit für ein neues Skript?